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 Schweizer Familienpolitik - mit Kind arm dran
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Liliput

Schweiz
882 Beiträge

Erstellt am: 10.11.2006 :  13:57:45 Uhr  Profil anzeigen
Sozialpolitik in der Schweiz - Stiefkind Familie (aus beobachter.ch)

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Für Strassen gibt es ein Bundesamt, für Familien nicht: Sie werden von der schweizerischen Politik sträflich vernachlässigt. Die Folge: Wer ein Kind bekommt, kann ganz schnell ganz arm dran sein.

Sind Kinder zu teuer? Schon die Fragestellung nervt viele. «Wer Kinder will, macht vorgängig doch keinen Kassensturz», heisst es oft. Das stimmt wohl - beim ersten Kind. Aber beim zweiten, allerspätestens beim dritten werden sich die Eltern fragen: Doch die Verhältnisse, gestatten sies?

«Ein Drittel der Familien befindet sich nur ganz knapp über dem Existenzminimum», antwortet Jacqueline Fehr, SP-Nationalrätin und Vizepräsidentin von Pro Familia. Was noch vor 100 Jahren die alten Menschen waren, sind heute die jungen Familien: armutsgefährdet. Besonders Familien mit mehr als zwei Kindern wie die Familie Gadient (siehe Nebenartikel «Familien: Beispiele von Geldnotstand») müssen mit dem demütigenden Gang zur Sozialhilfe rechnen. «Meine Gedanken kreisen immer ums Geld», klagt die dreifache Mutter Monika Gadient.

Familienarmut ist die Folge einer fehlenden Familienpolitik. Otto Piller, unter Bundesrätin Ruth Dreifuss Chef des Bundesamts für Sozialversicherung, erinnert sich. Etwa an Kurt Furgler (CVP-Bundesrat von 1971 bis 1986), der die Familie «als Keimzelle des Staates» gepriesen habe. «Dabei herrschte, im Vergleich zu umliegenden Ländern, bei uns schon damals ein Stillstand in Sachen Familienförderung.» Daran änderte sich bis zur Jahrtausendwende wenig: «Die Familienarmut hat in den 1990er Jahren trotz erhöhter Erwerbsbeteiligung der Mütter deutlich zugenommen», heisst es im offiziellen Familienbericht des Bundes von 2004. Die Gründe sind «steigende Zwangsabgaben» wie Krankenkassenprämien und Mieten. Und im Vergleich zum Ausland sind hierzulande die staatlichen Ausgaben für Familien und Kinder «sehr tief» - nachzulesen im Strategiebericht der ausserparlamentarischen Fachkommission, die Bundesrat Pascal Couchepin in Familienfragen berät. Im ganzen Jahr 2005 schüttete der Bund direkt an Kinder und Familien gerade mal so viel aus, wie die Schweizer Landwirtschaft in zwei Tagen an Subventionen verbrennt. Für den Ex-Chefbeamten Piller ist es keine Frage: «Die Schweiz braucht dringend eine griffige Familienpolitik auf Bundesebene.» Heute ist das vor allem Kantonssache.

Paradox: Wer sich Kinder leisten könnte, verzichtet darauf. Nur jedes siebte Kind lebt in einer Familie mit einem Einkommen über 150’000 Franken, fast jedes zweite hingegen in einer Familie mit einem Einkommen bis 90’000 Franken. Doch das ist nur scheinbar paradox, denn diejenigen, die auf Kinder verzichten, haben ja gerade auch deshalb ein hohes Einkommen.

Kinder kosten, und dies nicht zu knapp: mindestens 1’400 Franken im Monat, ein Einzelkind 1’800 Franken. Und was man oft vergisst: Mit dem Nachwuchs sinkt gleichzeitig das Haushaltseinkommen, weil in der Regel die Mutter den Job aufgibt oder reduziert. Damit schmelzen auch die Karrierechancen dahin. «Ein Mittelstandspaar, das ohne Kinder finanziell gut auskommt, kann mit Kindern sehr rasch an oder unter die Armutsgrenze geraten», sagt Familienpolitikerin Fehr. Manch junge Mutter wird M-Budget-Spaghetti dann nicht mehr kaufen, weil sie Kult, sondern weil sie billig sind.

Für Nationalrätin Fehr, selber Mutter zweier Kinder, ist die Sache klar: «Der Sozialstaat hat zu gewährleisten, dass kein Kind in Armut aufwachsen und kein Paar sich aus finanziellen Gründen gegen Kinder entscheiden muss.»


Die heutige Staatshilfe ist ineffizient

Nun ist es ja nicht so, dass der Staat untätig wäre. Er tut einiges. Die zwei wichtigsten finanziellen Mittel sind die Familienzulagen (Kinder-, Ausbildungs-, Geburtszulagen) und die Steuerabzüge. Die kantonal geregelten Familienzulagen, vorwiegend durch die Arbeitgeber finanziert, schwanken zwischen 154 und 344 Franken pro Kind und Monat. Diese enormen Unterschiede sollen schweizweit vereinheitlicht werden - die Kinderzulagen sollen auf mindestens 200 Franken festgesetzt werden. Ende November findet dazu die Volksabstimmung statt. Die Linke und die CVP unterstützen die Vorlage, flankiert von Bundesrat Couchepin; FDP und SVP bekämpfen sie. Bei Annahme der Vorlage würden «eine Million Kinder mehr Kinderzulage erhalten», sagt Jürg Krummenacher, Caritas-Direktor und Präsident der erwähnten Fachkommission für Familienfragen.

Das zweitwichtigste familienpolitische Instrument sind die Steuerabzüge. Sie betragen je nach Kanton 3’000 bis 12’000 Franken. Hier findet gar eine Umverteilung von Arm zu Reich statt, wie 2004 die Nationalfonds-Studie «Familien, Geld und Politik» des Büros Bass (Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien) feststellte. Gut- und Mittelverdiener profitieren nämlich stärker von den Abzügen als die Familien, die es am nötigsten hätten. Sozialdemokrat Piller ist überzeugt: «Über Steuern Familienpolitik zu machen funktioniert nicht.»

Daneben gibt es die Alimentenbevorschussung, einer der wichtigsten Pfeiler der Armutsprävention für allein erziehende Mütter. Wenn der Exmann die Kinderalimente nicht bezahlt, springt die Gemeinde ein und schiesst der Mutter das Geld vor. Theoretisch. In der Praxis kneifen Gemeinden immer öfter, wie auch das Beispiel von Nadia Locher (Name geändert) zeigt (siehe Nebenartikel «Familien: Beispiele von Geldnotstand»). Der Anspruch auf diese Zuschüsse ist von Kanton zu Kanton verschieden geregelt. Einige stellen sogar auf das Einkommen des neuen Partners ab.

Familienvergünstigungen im weiteren Sinn sind die subventionierten Krankenkassenprämien und die Stipendien. Zwölf Kantone kennen zudem Bedarfsleistungen für Familien mit Kleinkindern und tiefem Einkommen.

Fazit: Der Staat tut zwar etwas. Die zunehmende Familienarmut jedoch zeigt, dass er es ineffizient tut. Je nach Wohnort erhält jemand mehr oder weniger Zuschüsse. Das ist ungerecht und willkürlich.


Wenn die Grossmütter nicht wären

An Vorschlägen zur Familienpolitik mangelt es nicht. Die Linke setzt zusammen mit der CVP (siehe nachfolgende Umfrage) auf Ergänzungsleistungen für arme Familien in der ganzen Schweiz. Laut Ökonomen des Büros Bass ist dies das Instrument «mit der weitaus grössten armutsmindernden Wirkung». Auf diese Weise (zusammen mit der AHV seit 1948) wurde in der Schweiz die Altersarmut erfolgreich bekämpft. Ohne Ergänzungsleistungen würden über 230’000 Rentnerinnen und Rentner in die Armut abgleiten.

Die FDP setzt dagegen zuallererst auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Heute zahlt eine Familie mit zwei Kindern für einen nicht subventionierten Krippenplatz über 4’000 Franken im Monat. Subventionierte Plätze sind rar. Das bringt selbst gut verdienende Mittelstandspaare an die Grenze der finanziellen Belastbarkeit, wie das Beispiel der Familie Schulz zeigt (siehe Nebenartikel «Familien: Beispiele von Geldnotstand»). «In der Anfangszeit waren wir praktisch pleite», sagt Ehemann Jürgen Schulz. Trotz einem Haushaltseinkommen von 9’000 Franken. Da lohnt es sich für manche Frau kaum, zu arbeiten, ihr Verdienst geht für die Krippe drauf. Und sie hetzt von Termin zu Termin, von Arbeitsplatz zu Krippe, von Krippe zu Kinderarzt. Den Grossteil des Hütedienstes leisten heute immer noch die Grosis; sie betreuen Grosskinder in einem Umfang, der 100’000 Betreuungsplätzen entspricht. «Ihr Arbeitsvolumen liegt deutlich über demjenigen aller Lehrkräfte auf Primarschulstufe in der Schweiz», sagt Jacqueline Fehr. Würden morgen alle Grossmütter streiken, hätte dieses Land ein Problem.

Weil die meisten Haushalte aber keine Grossmutter zur Verfügung haben, sind sie auf Tagesschulen, Horte und Krippen angewiesen. Und die müssen bezahlbar sein. Daher befürwortet die FDP nicht nur mehr, sondern auch mehr subventionierte Krippenplätze. Zudem kämpft sie für Blockzeiten. Die SVP lehnt praktisch alle Vorschläge in diese Richtung ab. Sie bevorzugt höhere Steuerabzüge, «allerdings nur für Kinder, die auch zu Hause betreut werden», teilt Generalsekretär Gregor Rutz dem Beobachter mit. «Damit werden endlich diejenigen Familien belohnt, die die Kinderbetreuung selber wahrnehmen.»

Landwirtschaft und Strassen sind dem Bund offenbar wichtiger als Familien, denn die haben ein eigenes Bundesamt in Bern - die Familien nicht. Immerhin scheint der auch ein bisschen für Familien zuständige Bundesrat Couchepin die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Schon fast beschwörend schloss er die Präsentation des Familienberichts mit den Worten: «Ohne Kinder hat eine Gesellschaft keine Zukunft. Europa hat es gemerkt, auch die Schweiz muss diesbezüglich aufwachen.»


Quellenangabe:
Beobachter 23/06 - Schweizerischer Beobachter - www.beobachter.ch
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